Sachverhalt:


1. Ausbaustandard:


Bislang wurden Erschließungsanlagen in der Gemeinde Reichshof in Neubaugebieten, in denen noch keine abschließende Bebauung stattgefunden hat, im zweistufigen Verfahren ausgebaut. Es erfolgte die Herstellung zunächst als sog. Baustraßen. Diese bestehen in der Regel aus einem Regenwasserkanal, dem Straßenunterbau, einer Tragschicht/ Tragdeckschicht und Beleuchtungsanlagen. Zur Niederschlagswasserbeseitigung erhalten die Baustraßen Straßeneinläufe und durch entsprechende Asphaltierung (Randwülste) eine provisorische Wasserführung.


Der endgültige Ausbau der Erschließungsanlagen, insbesondere das Aufbringen der Feinschicht, sollte nach Abschluss der Bebauung der anliegenden Grundstücke erfolgen. Dieses Verfahren dient dazu, Schäden an der Erschließungsanlage durch Baustellenverkehr und Straßenaufbrüche zu vermeiden.



2. Rechtliche Bewertung einer Beitragserhebung:


Die Rechtslage zur Abrechnungsfähigkeit von Straßen nach BauGB ist in der jüngeren Vergangenheit ständigen Änderungen unterlegen. Dies hat ggf. Auswirkungen auf die grundsätzliche Abrechnungsfähigkeit der Straßen in Heischeid. Um die Gemeinde Reichshof hier vor einem Schaden zu schützen, stellt diese Vorlage die Rechtslage ausführlich dar und soll damit gleichzeitig die etwaigen Risiken für die Gemeinde aufzeigen.


a) Rechtsgrundlage:


Bei beiden Straßen handelt es sich nach ursprünglicher Einschätzung um eine erstmalige Herstellung, die auf Grundlage des BauGB abzurechnen ist. Diese Einschätzung hat sich nach heutiger Rechtslage grundsätzlich nicht verändert. Näheres wird im Weiteren erläutert.



b) Fristen zur Beitragserhebung:


In der Vergangenheit gab es keine gesetzliche Regelung zu Ausschlussfristen bei der Erhebung von Erschließungsbeiträgen. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verstößt jedoch eine zeitlich unbegrenzte Erhebung von Erschließungsbeiträgen gegen das im Grundgesetz verankerte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit.


Dies veranlasste den Landesgesetzgeber entsprechende Ausschlussfristen gesetzlich zu regeln. Es wurde ein Gesetzesentwurf zur Einführung einer gesetzlichen Ausschlussfrist für die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen – § 3 AG BauGB (Ausführungsgesetz zum BauGB) – aufgestellt. Dieser beinhaltete u.a. eine 10-Jahresfrist für ab dem 01.06.2022 entstehende Vorteilslagen und eine 20-Jahresfrist für zu diesem Zeitpunkt bereits eingetretene Vorteilslagen.


Daraufhin wandte sich die Verwaltung mit Schreiben vom 15.03.2022 (s. Anlage 1) an den Städte- und Gemeindebund bezüglich eines Eintritts der Vorteilslage bei den gemeindlichen Baustraßen.

Nach Auskunft des Städte- und Gemeindebundes mit Schreiben vom 22.03.2022 (s. Anlage 2) ist bei den Baustraßen aufgrund der fehlenden Feinschicht die Vorteilslage noch nicht eingetreten und folglich begann die Ausschlussfrist noch nicht zu laufen.


Nach einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren trat schließlich am 29.03.2023 rückwirkend zum 01.06.2022 der § 3 AG BauGB außer Kraft und das neue KAG NRW (Kommunalabgabegesetz) mit dem neu eingeführten § 12 a (s. Anlage 3) in Kraft. Dieser stellt nach wie vor die aktuell gültige Rechtslage dar.


Hiernach ist die Erhebung von Erschließungsbeiträgen maximal innerhalb von 20 Jahren ab Eintritt der Vorteilslage möglich. Es gibt eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2027 für Anlagen, bei denen die Ausschlussfrist im Zeitraum von 2022 - 2026 endet. Bereits erhobene Vorausleistungen dürfen behalten werden, soweit sie die fiktive endgültige Abgabe nicht überschreiten. Kann aufgrund des Fristablaufs für die Anlage kein Beitrag für den Erstausbau mehr erhoben werden, gilt die Anlage als erstmalig hergestellt.



c) Beurteilung der Vorteilslage als Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit und -frist:


Die Vorteilslage als Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit tritt ein, wenn eine Straße unter natürlicher Betrachtung als endgültig hergestellt anzusehen ist. Dies ist gemäß einem Urteil des OVG NRW vom 08.06.2021, das dem Gesetz zugrunde liegt, dann gegeben, wenn


1. die in der Erschließungsbeitragssatzung der Gemeinde definierten Herstellungsmerkmale erfüllt sind,


2. eine zweckentsprechende Anlagennutzung möglich ist und


3. die Anlage aus Sicht eines objektiven Betrachters endgültig fertiggestellt erscheint.


Ein endgültiger Straßenausbau nach dem technischen Ausbauprogramm ist für das Eintreten der Vorteilslage nicht erforderlich.


Gemäß Satzung über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen der Gemeinde Reichshof sind Straßen u.a. endgültig hergestellt, wenn sie die folgenden Bestandteile und Herstellungsmerkmale aufweisen:


a) F a h r b a h n mit Unterbau und Decke; die Decke kann aus Asphalt, Teer, Beton, Pflaster oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher Bauweise bestehen;


b) b e i d e r s e i t i g e G e h w e g e mit Abgrenzung gegen die Fahrbahn und fester Decke; die Decke kann aus Platten, Pflaster, Asphaltbelag oder einem ähnlichen Material neuzeitlicher

Bauweise bestehen;


c) E n t w ä s s e r u n g s e i n r i c h t u n g e n mit Anschluss an die Kanalisation;


d) B e l e u c h t u n g s e i n r i c h t u n g e n betriebsfertig.


e) B e g l e i t g r ü n i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 6.a) dieser Satzung angelegt.



Die Straßen „Im Drieschgarten“ und „Auf dem Lehmel“ wurden im Jahre 2002 als Baustraßen mit dem eingangs beschriebenen Aufbau hergestellt. Im selben Jahr ergingen an die Anlieger Vorausleistungsbescheide. Nach Spitzabrechnung der tatsächlichen Kosten für die Baustraßen, die bis 2004 vorlagen und umgelegt wurden, erfolgten im gleichen Jahr Teilrückzahlungen in Höhe von insgesamt 13.700 € für die Straße „Im Drieschgarten“ und 3.100 € für die Straße „Auf dem Lehmel“.


Zwar fehlen den v.g. Straßen die Herstellungsmerkmale „beiderseitige Gehwege“ und „Begleitgrün“, jedoch stellen diese Merkmale in der Gemeinde Reichshof nicht den üblichen Standard dar bzw. es wird in Abweichungsbeschlüssen, wie vorliegend in 2006 geschehen, auf die Merkmale Fahrbahn mit Unterbau und Decke, Entwässerungseinrichtungen und Beleuchtung reduziert.


Die Straßen wurden in der Vergangenheit bereits gewidmet. Die Bebauung der anliegenden Grundstücke ist noch nicht abgeschlossen.


Anhand der Definition in der Satzung „F a h r b a h n mit Unterbau und Decke“ ist für den Laien nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass bei einer Baustraße mit Tragschicht/ Tragdeckschicht die eigentliche Decke noch aufgebracht werden muss und somit dieses Herstellungsmerkmal noch nicht gegeben ist. Für den Laien könnte sich somit die Straße als endgültig hergestellt darstellen, die Vorteilslage eingetreten und ein Endausbau nicht mehr abrechenbar sein. Nach Auffassung des Städte- und Gemeindebundes ist mit Verweis auf die Rechtsprechung des VGH Kassel bzw. des OVG Münster dem Laien jedoch zumutbar, sich entsprechender fachkundlicher Hilfe zu bedienen.


Mit erneutem Schreiben vom 08.08.2023 (Anlage 4) an den Städte- und Gemeindebund bat die Verwaltung um Klarstellung, ob die dortige Einschätzung zum Eintritt der Vorteilslage bei den in Rede stehenden Baustraßen in Heischeid nach Einführung des neuen § 12 a KAG unverändert geblieben ist.


In seiner Antwort vom 02.10.2023 (Anlage 5) bestätigt der Städte- und Gemeindebund einerseits, dass nach aktueller Rechtsprechung des OVG Münster die in der Erschließungsbeitragssatzung genannten Herstellungsmerkmale für den Eintritt der Vorteilslage erfüllt sein müssen. Der Städte- und Gemeindebund hält es dahingehend weiterhin für vertretbar, die Auftragung der Feinschicht auf die Fahrbahn als Voraussetzung für die Erfüllung des Herstellungsmerkmals „Fahrbahn“ in der Erschließungssatzung heranzuziehen und das Entstandensein der Vorteilslage abzulehnen.


Allerdings habe das BVerwG im Jahr 2013 in einem Fall anders entschieden:

Mit Urteil vom 15.05.2013 sah das BVerwG eine einfache, einschichtige Teerschicht für die endgültige Herstellung der Teileinrichtung „Fahrbahn“ als ausreichend an. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung des BVerwG besteht somit eine Rechtsunsicherheit, was den tatsächlichen Eintritt der Vorteilslage der mit Tragschicht/ Tragdeckschicht ausgeführten Baustraßen „Auf dem Lehmel“ und „Im Drieschgarten“ betrifft.


Sollte bei diesen Anlagen die Vorteilslage noch nicht eingetreten sein, hat in Folge dessen die Ausschlussfrist von 20 Jahren nach § 12 a KAG NRW noch nicht begonnen. Ist jedoch bei den Straßen rechtlich die Vorteilslage bereits eingetreten, so hat die Ausschlussfrist 2002 zu laufen begonnen.


Der Städte- und Gemeindebund zeigt mit Verweis auf § 12 a Abs. 3 KAG NRW auf, dass diese Rechtsunsicherheiten dadurch vermieden werden können, indem die zwischen den Jahren 2002 und 2006 hergestellten Baustraßen bis Ende 2027 fertiggestellt und endabgerechnet werden.



d) Risikobetrachtung:


Vorliegend kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass im Fall einer gerichtlichen Überprüfung die Straßen „Im Drieschgarten“ und „Auf dem Lehmel“ als endgültig hergestellt eingestuft würden und die Vorteilslage damit eingetreten wäre. Danach könnte keine Abrechnung für einen noch zu erfolgenden Endausbau erfolgen.


Bei bereits eingetretener Vorteilslage würden die Straßen nach Ablauf der Übergangsfrist in der Rechtsfolge als erstmalig hergestellt gelten und wären aus der Beitragspflicht nach BauGB entlassen. Ob ein Endausbau nach den Bestimmungen des Kommunalabgabegesetz (KAG) zukünftig kostenfrei erfolgen könnte, kann ebenso nicht eindeutig rechtlich beantwortet werden. Daran bestehen erhebliche Zweifel, da die Straßen schon seit jeher sowohl im Bauprogramm als auch im Haushalt als noch auszubauende BauGB-Straßen geführt wurden.


Letztlich bleibt daher das Risiko, im ungünstigsten Fall den technisch notwendigen Endausbau zu 100% zu Lasten der Gemeinde finanzieren zu müssen.


Um diesem Umstand zu begegnen, schlägt die Verwaltung vor, den endgültigen Ausbau der Straßen „Im Drieschgarten“ und „Auf dem Lehmel“ innerhalb der in § 12 a KAG NRW normierten Übergangsfrist bis spätestens 2027 abzuwickeln.



3. Finanzielle Auswirkungen:


Im nach heutiger rechtlicher Annahme wahrscheinlichsten Fall, wäre zwar die Vorteilslage nicht eingetreten und ein Endausbau mit Abrechnung auch zukünftig noch möglich. Allerdings wäre auch dann eine Beitragspflicht in Höhe von 90% für die Anlieger gegeben, zu einem späteren Zeitpunkt ggf. aber mit noch höheren Ausbaukosten verbunden.


Die Höhe der noch auf den endgültigen Ausbau zu erhebenden Erschließungsbeiträge wird aufgrund von Kostensteigerungen voraussichtlich wesentlich höher als in 2001 geschätzt ausfallen. Nähere Angaben werden in der Sitzung gemacht.


Die Anlieger wurden wiederholt im Reichshofkurier auf den anstehenden Endausbau hingewiesen. Bereits in 2001 sprach sich die überwiegende Mehrheit gegen einen Straßenbau aus. Nach den Veröffentlichungen der jüngeren Vergangenheit haben sich bereits einzelne Anlieger bei der Verwaltung ebenso negativ geäußert.


Eine weitere Anliegerversammlung würde im Fall einer positiven Beschlussfassung durchgeführt.



Anlagen:


1. Schreiben an den Städte- und Gemeindebund vom 15.03.2022

2. Antwort des Städte- und Gemeindebundes mit Schreiben vom 22.03.2022

3. neu eingeführter § 12 a KAG NRW (Kommunalabgabegesetz)

4. Schreiben an den Städte- und Gemeindebund vom 08.08.2023

    5. Antwort des Städte- und Gemeindebundes mit Schreiben vom 02.10.2023

    6. Übersicht Fristen (Zeitstrahl)


Der Bau-, Planungs-, Verkehrs- und Umweltausschuss der Gemeinde Reichshof beschließt:


1. den Endausbau der Straßen „Im Drieschgarten“ und „Auf dem Lehmel“ in der Ortslage Heischeid nach Baugesetzbuch (BauGB).


2. Der Endausbau erfolgt gemäß dem am 22.03.2001 beschlossenen Bauprogramm in Form des Grundausbaus mit einer Regelbreite von 4,16 m einschließlich einer talseitigen dreizeiligen Entwässerungsrinne durch Herstellung der noch fehlenden Bestandteile endgültig. Varianten wurden seinerzeit von den Anliegern nicht gewünscht.


Es wird folgender Beschluss gefasst:

Der Bau-, Planungs-, Verkehrs- und Umweltausschuss vertagt die Beschlussfassung in die Sitzung des Rates der Gemeinde Reichshof am 15.04.2024.


Frau Sarah Schmidt erläutert den Ausschussmitgliedern kurz die rechtlichen Neuerung zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes und weist darauf hin, dass die kürzlich beschlossene Änderung nur am Rande eine Rolle spielt.


Herr Müller erläutert den Ausschussmitgliedern die technische Ausführung des geplanten Straßenausbaus.


Herr Webel erläutert den Ausschussmitgliedern die Verwaltungsvorlage und geht hierbei auf die gesetzlichen Grundlagen ein. Er weißt hierbei auf die Risiken hin, sollte ein Ausbau nicht in der gesetzlichen Übergangsfrist erfolgen.


Es schließt sich eine Aussprache an.


Ausschussmitglied Schneider beantragt für die SPD-Fraktion, eine Vertagung in die Sitzung des Rates am 15.04.2024 aufgrund von Beratungsbedarf.


Ausschussmitglied Leienbach spricht sich für den Vertagungsantrag aus.


Vorsitzender Funke lässt über den Vertagungsantrag abstimmen.


Abstimmungsergebnis:


Dafür:

13

dagegen:

1

Enthaltung:

5